Aktuell

24.06.2009 - Podiumsdiskussion im Rahmen der Jüdischen Woche in Leipzig

Einladung zur PodiumsdiskussionMit einer Podiumsdiskussion beteiligte sich die Geschichtswerkstatt an der  8. Jüdischen Woche in Leipzig. Überschrieben war die Diskussion mit der Frage "Erinnern an den Holocaust - aber wie?" Mit namhaften Gästen wurde diese zukunftsweisende Frage in der HTWK Leipzig diskutiert.

Insbesondere nahmen an der Diskussion teil: Prof. Dr. Werner Konitzer (stellvertretender Direktor des Fritz-Bauer-Instituts), Prof. Dr. Alfons Kenkmann (Universität Leipzig) sowie Prof. Dipl.-Ing. Harald Stricker (HTWK Leipzig). Weiterhin wurde der Holocaustüberlebende und langjährige Vorsitzende der Israelitischen Religionsgemeinde Leipzig Rolf Isaacsohn um Teilnahme gebeten. Moderator der Veranstaltung war der Autor und Publizist Uwe von Seltmann.

Diskussionsverlauf

Als zentraler Begriff stand das Erinnern im Mittelpunkt der Podiumsdiskussion, zu der die Geschichtswerkstatt Flößberg e.V. in Zusammenarbeit mit Weiterdenken e.V. im Rahmen der 8. Jüdischen Woche in Leipzig geladen hatte. Den Abend prägten (auto-)biographische Zugänge.

Rolf Isaacsohn berichtete über das Leid, dass man ihm und seiner Familie als Angehörige der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig in der Zeit des Nationalsozialismus zugefügt hatte. 1933 geboren, erlebte er als Kind Ausgrenzung und Verfolgung. Mit den Pogromen 1938 fühlte er sich „nicht mehr als normales Kind“. Er schilderte die ständigen Umzüge innerhalb und die unwürdigen Wohnverhältnisse in den Leipziger „Judenhäusern“ sowie seine Deportation und die seines Vaters 1945 nach Theresienstadt. Halt gab ihm in den ganzen Jahren seine Mutter, die er bei seiner Rückkehr in die Heimatstadt vorfand, und der er auch seine Ausbildung verdankt, welche ihm die Nationalsozialisten verwehrt hatten. Sie macht damit einen unverzichtbaren Teil seiner Erinnerung aus.

Einer breiten Öffentlichkeit sind die Recherchen Uwe von Seltmanns und Claudia Brunners zu den Verbrechen der Großväter Lothar von Seltmann und Alois Brunner bekannt, die 2004 unter dem Titel „Schweigen die Täter, reden die Enkel“ erschienen. Und auch Werner Konitzer berichtete von seiner Aufarbeitung der Geschichte seines Großvaters, der in der Gestapo tätig war.

Neben biographischen Zugängen zum Thema „Erinnern an den Holocaust“ lieferten die Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte der Podiumsteilnehmer fachspezifische Positionen für die Diskussion. Den Ausgangspunkt bildete dabei die Arbeit der Geschichtswerkstatt Flößberg e.V., die sich um einen Erinnerungsort für das ehemalige KZ Flößberg bemüht. Dieses war ein Außenlager des KZ Buchenwald und wurde 1944/45 von der Leipziger Rüstungsfirma Hugo-Schneider-AG (HASAG) im Südraum Leipzigs betrieben. Insgesamt durchliefen das Lager über 1.900, meist jüdische, Häftlinge. Mindestens 235 fanden in Flößberg selbst den Tod, nicht mitgezählt sind dabei die zahlreichen Opfer der Transporte und der Vernichtungen im Stammlager Buchenwald. Die besondere Situation im Flößberger Wald, wo sich das Lager befand und nunmehr kaum Spuren zu finden sind, bot sogleich den Anlass der Podiumsdiskussion. Wie könnte sich ein würdiges Erinnern vor Ort gestalten? Ein Bild vom diesjährigen Holocaust-Gedenktag in Flößberg, an dem lediglich neun Bürger teilnahmen, bildete den unmittelbaren Einstieg in die Diskussion. Angesichts der wenigen Teilnehmer wurde gefragt, ob etwas bei der Erinnerung an den Holocaust schief laufe.

Werner Konitzer stand der Frage eher skeptisch gegenüber. Schließlich sei das Erinnern ein heterogener Begriff und im fortschreitenden Prozess begriffen. Man müsse sich vielmehr fragen, wann das historische Ereignis aufhöre und das Erinnern anfange, beide stünden in stetigem Wechsel. Als Beispiel nannte er den Umgang mit NS-Raubkunst, die teilweise bis heute nicht zurückgegeben wurde und das Ereignis als solches somit nicht als abgeschlossen betrachtet werden könne. Als problematisch bewertet Konitzer die Trennung von Ethik und Historie. Mit den Äußerungen des Kardinals Darío Castrillón Hoyos als Reaktion auf den jüngsten Skandal des Bischofs und Holocaustleugners Richard Williamson zog Konitzer ein aktuelles Beispiel heran. Dieser habe genau den Fehler begangen, Moral und Geschichte unabhängig voneinander zu betrachten.

Podiumsdiskussion am 24.06.2009Auch Alfons Kenkmann wehrt sich dagegen, die Frage, ob etwas schief laufe beim Erinnern, zu stellen. Seiner Meinung nach sei die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen von jeher ein Minoritätendiskurs gewesen. Als Beispiel nannte er das geringe Interesse an den NS-Prozessen, wofür sich die Mehrheit der Bevölkerung nicht interessiert habe. Er begrüßt Initiativen wie die der Geschichtswerkstatt. Rituelle Akte fördern seiner Meinung nach das Geschichtsbewusstsein, wobei ein Zuviel an Routine wiederum nicht förderlich sei. Kenkmann beschäftigte auch die Frage, wie man erinnere, wenn die Zeitzeugen nicht mehr vorhanden sind. Dann wandle sich das kommunikative zum kulturellen Gedächtnis und fordere auch neue Formen der Auseinandersetzung. Als wichtigste Quellen bewertete der Historiker, der zuvor als Lehrer in Nordrhein-Westfalen tätig war, Protokolle von Überlebenden-Berichten. Sie ermöglichten über Biographien einen konkreten Zugang zum Thema.

Auch wurde das Thema Schlussstrichdebatte angesprochen. Werner Konitzer machte darauf aufmerksam, dass bereits Fritz Bauer davor gewarnt hatte. Geschichtsunterricht in der Schule gestaltet sich bezüglich der NS-Geschichte oft als gezwungen und langweilig. Darin mag einer der Gründe für den vorhandenen Sättigungsgrad liegen. Vielmehr müssten kreative Formen des Umgangs mit dem Holocaust erprobt werden. Dafür plädierte Alfons Kenkmann. Er verwies in dem Zusammenhang auch auf das Stockholm International Forum on the Holocaust (26.-28. Januar 2000), wo man eine Erklärung mit dem Ziel einer stärker vernetzten Zusammenarbeit verabschiedete.

Den zweiten Schwerpunkt neben der Diskussion über den Begriff des Erinnerns bildete die Präsentation konkreter Vorschläge für die Schaffung eines Erinnerungsorts in Flößberg. In Zusammenarbeit mit der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) Leipzig waren im Sommersemester 2007 studentische Entwürfe entstanden, die sich mit der Geschichte des KZ Flößberg beschäftigen und konkrete Konzepte vorschlagen. Harald Stricker, der zusammen mit Hubert Hermann das Seminar inhaltlich betreute, stellte einige der Entwürfe am Abend vor. Der besondere Umstand im Flößberger Wald – das Fehlen von Spuren des Lagers – stellte für die Architekturstudenten eine besondere Herausforderung dar. Konkret lässt sich vor Ort nichts fassen, so wird der Aspekt des Markierens ein zentraler. Der geplante Erinnerungsort versteht sich dabei als Angebot, sich mit der Geschichte des Ortes auseinander zu setzen und daran zu erinnern. Daher rührt auch der Titel „Landschaftsinstallationen zum Nachdenken“ der Publikation, die die verschiedenen Entwürfe für Flößberg versammelt. Stricker betonte, dass die visuelle Behandlung mit dem Thema, wie es sich in den Entwürfen niederschlägt, ein möglicher Umgang mit dem Holocaust sei, wenngleich dies in reduzierter Form erfolge. Die Abstraktion sei hier notwendig.

Im Zusammenhang mit der Frage nach der Sichtbarmachung der Geschichte stellte sich Harald Stricker die Frage, wie man würdig erinnern könne und ob möglicherweise auch der Einsatz von „Schockeffekten“ gerechtfertigt sei. Alfons Kenkmann sprach sich gegen Letzteres aus. Vielmehr müsse man pädagogische Konzepte entwickeln (und nicht neu erfinden), die eine Annäherung an das Thema ermöglichten. Bezüglich eines würdigen Umgangs mit der Geschichte berichtete Rolf Isaacsohn von der Jüdisch-christlichen Arbeitsgemeinschaft Leipzig, die mit ihrer Arbeit die Israelitische Religionsgemeinde unterstützt. So werden unter anderem auch gemeinsame Gedenkveranstaltungen am 27. Januar und am 9. November durchgeführt, an denen auch Gemeindemitglieder teilnehmen, die keinen direkten Bezug zu den Ereignissen haben. 


Podiumsdiskussion am 24.06.2009In der sich anschließenden Publikumsrunde kristallisierten sich noch einmal allgemeine Fragen zum Wie des Erinnerns neben konkreten zu den einzelnen Entwürfen heraus. So fühlte sich mancher im Publikum von Familie und Bildungsinstanzen allein gelassen bei der Auseinandersetzung mit dem Holocaust oder fand erst spät Austauschmöglichkeiten. Rolf Isaacsohn betonte, dass jeder für sich allein entscheiden müsse, wie er mit dem Thema umgehe. Es gehe dabei nicht um Erwartungshaltungen, sondern vielmehr um individuelle Ansätze der Bewusstwerdens von Geschichte. Alfons Kenkmann verwies bereits in seinem Eingangsstatement auf das Defizit der NS-Aufarbeitung in der ehemaligen DDR. Hierin könnte einer der Gründe für die Unsicherheit im Umgang mit dem Holocaust und dem Erinnern daran liegen. Eine konkrete Handlungsanweisung lasse sich nur schwierig ableiten, da – so Kenkmann und Konitzer – die Singularität des Holocaust dies nicht zulasse.

Die hohe Besucherzahl (mehr als 100 Zuschauer) wie auch die rege Diskussion, während wie nach der Veranstaltung, legen nahe, dass das Thema „Erinnern an den Holocaust – aber wie?“ längst nicht erschöpfend behandelt wurde und – um mit den Worten der Podiumsgäste zu sprechen – Teil eines andauernden Prozesses ist, der unbedingt fortgeführt werden sollte.

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