26. September 2015 - Sohn eines Überlebenden besucht das KZ-Außenlager Flößberg
Am letzten Septemberwochenende besuchte Andrew Casey, Sohn des KZ-Überlebenden Stephen Casey das ehemalige KZ-Außenlager Flößberg. Vor Ort wurde er unter anderem von Torsten Wünsche, dem Vorsitzenden des Fördervereins Gedenkstätte Flößberg e.V. begleitet. Über seine Begegnung mit Andrew hat Torsten Wünsche einen Beitrag geschrieben, den wir an dieser Stelle gern wiedergeben möchten.
Besuch aus Down Under: Sohn eines Überlebenden besucht das KZ-Außenlager Flößberg
von Torsten Wünsche
Ich arbeite im Vorstand des Fördervereins Gedenkstätte Flößberg e.V. Mein Verein kümmert sich zusammen mit der Geschichtswerkstatt Flößberg e.V. um das ehemalige KZ-Außenlager Flößberg. Es gehörte zum Netzwerk des Konzentrationslagers Buchenwald, welches zig Außenlager zwischen Rhein und Elbe betrieben hat. Das Lager in Flößberg bestand nur kurze Zeit, zwischen Dezember 1944 und April 1945. Es hatte den Zweck, für den Leipziger Rüstungsbetrieb HASAG Panzerfäuste zu produzieren. 1.900 Häftlinge durchliefen als Zwangsarbeiter das Lager, die meisten waren Juden aus Polen und Ungarn. 235 Menschen starben vor Ort an Hunger, Kälte und Misshandlung, unzählige weitere wurden in Buchenwald totgespritzt, nachdem ihre Arbeitskraft verbraucht war, bzw. überlebten den Todesmarsch nicht, welcher sich nach der Evakuierung des Lagers zwei Wochen lang hinzog und schließlich im KZ Mauthausen (Österreich) endete. Wer heute den kleinen Flößberger Wald sieht, kann sich diese Dimensionen nicht vorstellen. Deshalb halten unsere Vereine die Erinnerung daran wach.
Istvan Katona wurde 1924 in Ungarn geboren und ist jüdischen Glaubens. Als junger Mann hat er mindestens vier Lager des NS-Regimes überlebt: das KZ Buchenwald als Stammlager und dessen Außenlager in Schlieben (Brandenburg) und Flößberg (Sachsen), sowie das KZ Mauthausen. Seine Familie ist ohne weitere Ausnahme in KZ und Vernichtungslagern umgekommen. Sein Sohn erzählte mir gestern, dass die weiblichen Angehörigen in Auschwitz direkt von der Rampe in’s Gas gegangen sind. Istvan Katona führt sein Überleben vor allem auf den Umstand zurück, dass er als ausgebildeter Elektriker im Lagerbetrieb besonders gebraucht wurde. Nach seiner Befreiung lebte er in Ungarn, bis er in den 1950ern nach Australien ausgewandert ist, wo er den Namen Stephen Casey angenommen hat.
Im Jahr 1990 begab sich folgendes: Stephen war mit seiner Frau auf Europareise und hatte vor, die NS-Lager noch einmal zu besuchen. In Flößberg hatte er unüberwindliche Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Das damalige Barackenlager gab es schon lange nicht mehr. Die Gleisanlagen der Werksbahn waren längst demontiert worden und die Fundamente der Lagerhallen und Produktionsstätten längst überwachsen. So wandte er sich an die Gemeindeverwaltung, deren Mitarbeiter nicht weiterhelfen konnten. Die Gemeindeschwester nahm sich Stephens an und versuchte vergebens, über Kirche und Ortschronisten in aller Eile Informationen zu erlangen. Schließlich führte sie ihn und seine Frau zu dem im Wald befindlichen Häftlingsfriedhof, wo 38 Opfer des Lagers ihre letzte Ruhe gefunden haben. Der Friedhof war jedoch erst nach dem Ende des Lagerbetriebes errichtet worden, so dass Stephen nichts von dem wiedererkannte, was einmal ein KZ-Außenlager war.
Fünfzehn Jahre später gründete der Sohn der Gemeindeschwester, der zufällig den selben Vornamen trägt (ungarisch: Istvan - englisch: Stephen - deutsch: Stefan) mit weiteren Dorfbewohnern eine Initiative, aus der später ein Verein hervorgegangen ist - die Geschichtswerkstatt Flößberg e.V. Sie brachte vieles von dem zutage, was wir heute über das Lager wissen und in Führungen, Vorträgen und Publikationen weitergeben können. Es sind in der Zwischenzeit Wegweiser und Informationstafeln errichtet, ein Geschichtslehrpfad entstanden und Spuren freigelegt worden. Seit einigen Jahren unterstützt mein Verein als Förderverein die Geschichtswerkstatt in ihrer Arbeit.
Vorgestern erreichte uns über Facebook die Information, dass Stephen Caseys Sohn, Andrew, auf Europareise sei und dabei auch die Leidensorte seines Vaters besucht, so wie dieser es 1990 selbst getan hat. Und gestern Morgen wussten wir, dass er von Weimar (Buchenwald) nach Leipzig kommen würde, um Flößberg zu besuchen. Damit sich die Odyssee seines Vaters nicht wiederholte, waren wir uns einig, Andrew den Besuch zu erleichtern.
Und so kam es, dass ich ihn am Nachmittag vom Westin Hotel in Leipzig abholte und mit ihm nach Flößberg fuhr. Dort nahmen sich Stefans Vater (der Ehemann der ehemaligen Gemeindeschwester) und ich uns zwei Stunden Zeit, um zusammen Andrew über das Lagergelände zu führen. Er hatte seinem Vater versprochen, sich alles anzusehen und ihm von seinen Eindrücken zu berichten. Er fotografierte und stellte Fragen. Ich antwortete und dolmetschte.
Am Ende unserer Führungen zeigen wir Besuchern stets den Häftlingsfriedhof. Auch Andrew führten wir dahin und er setzte seine Kipa auf, als wir ihn betraten. Stolz konnten wir ihm berichten, dass der Friedhof nach einer Renovierung in diesem Jahr neu eingeweiht worden ist und hier wieder regelmäßig Gedenkveranstaltungen stattfinden. Er war begeistert davon, hier einen gepflegten Friedhof im jüdischen Stil vorzufinden und freute sich auch über die Kieselsteine, welche, einem jüdischen Brauch folgend, auf die Grabsteine gelegt worden sind. Als ich ihm ein Foto unserer Veranstaltung vom Holocaust-Gedenktag 2015 zeigte, war Andrew beeindruckt von der hohen Teilnehmerzahl.
Etwas unglücklich sei er als australischer Jude darüber, dass dieser Tag auf den australischen Nationalfeiertag (26. Januar) folge, so dass sich Feierlichkeiten in den Gedenktag hineinzögen, berichtete er. Außerdem klärte er uns darüber auf, dass traditionell keine Blumen auf jüdische Gräber gelegt würden, stattdessen die Steine, welche zum Ausdruck bringen sollen, dass der Verstorbene nicht vergessen ist.
Es dämmerte bereits, als wir die ehemalige Gemeindeschwester besuchten. Andrew wollte sie nach den Erzählungen seines Vaters unbedingt kennen lernen. Bei einem Abendbrot gab sie die Begebenheit von 1990 noch einmal wieder. Andrew überbrachte die Grüße seines Vaters und erzählte von ihm, während ich wieder übersetzte. Zum Beispiel darüber, dass Stephens Frau - wie er ungarischer Abstammung und jüdischen Glaubens - zeitlebens verboten habe, deutsche Produkte in den heimischen Haushalt zu bringen. Aber auch darüber, dass Stephen gern „Clausthaler alkoholfrei“ trinke. Oder dass die beiden ihren jüdischen Glauben weniger praktiziert hätten („Wo war Gott während des Holocaust?“) als Andrew dies heute tut. Nach einem Erinnerungsfoto bedankte sich Andrew herzlich für die Gastfreundschaft. Dann brachte ich ihn zurück nach Leipzig.
Nachdem er den heutigen Sonntag in Leipzig verbracht hat, wird Andrew am Montag weiterreisen nach Frankfurt am Main, wo er Stefan und Kathrin, die Mitbegründer der Geschichtswerkstatt, treffen wird. Auch dies war ihm ein großes Bedürfnis. Anschließend wird er nach Mauthausen reisen, um das KZ, aus dem sein Vater schließlich befreit worden war, zu besuchen. Den Abschluss seiner Reise bildet Budapest, wo er Freunde wiedertreffen wird.
Eines hat mich an dieser Begegnung besonders beeindruckt: das Versprechen Andrews an seinen Vater, noch zu dessen Lebzeiten die KZ-Reise zu unternehmen und ihm davon zu berichten. Dafür war es höchste Zeit, denn aufgrund von Stephens Gesundheitszustand erwartet Andrew, dass er das kommende Jahr nicht überleben wird. Dies hat mich gelehrt, dass wir nicht erwarten dürfen, dass der Holocaust vergessen werden könne, wenn der letzte Täter und das letzte Opfer gestorben sind. Die Welt schaut nach wie vor auf unser Land und unseren Umgang mit der Geschichte. Ich habe Andrew von Nazi-Demos, Anschlägen auf Asylbewerberheime und Stolperstein-Vandalismus erzählt. Er hat darüber auf Facebook gepostet - die Reaktionen seiner Landsleute sind erwartungsgemäß. Und ich schäme mich dafür fremd.
Wer glaubt, durch die Gnade der späten Geburt nach 1945 keine Verantwortung für unsere Geschichte und die Lehren, welche wir daraus ableiten, tragen zu müssen, darf bitte auch nicht stolz auf seine Abstammung sein.