Erinnern am Internationalen Gedenktag an die Opfer des Holocaust
Rund 20 Bürger der Region, darunter Besucher aus Borna, Frohburg und Geithain, versammelten sich am Sonntagnachmittag, dem 27. Januar 2019, auf dem Häftlingsfriedhof des KZ-Außenlagers Flößberg, um gemeinsam mit den Menschen in aller Welt der Opfer des Holocaust zu gedenken.
Torsten Wünsche, Vorsitzender unseres Schwestervereins Förderverein Gedenkstätte Flößberg e.V., führte durch die Zeremonie. Er erinnerte an die Schrecken des Lagers und ging insbesondere auf ein einzelnes Schicksal, namentlich das des jüdischen Mitbürgers Max Michaelis ein. Wie es dazu kam, beschrieb Wünsche so:
„Bereits im Sommer 2017 hatten wir einen besonderen Gast in Flößberg. Es handelte sich dabei um Frau Ursula Handelmann Michaelis aus Moers. Sie hat sich 73jährig auf die Spuren ihres Vaters begeben, der als Angehöriger der jüdischen Glaubensgemeinschaft in Deutschland alle Rechte verlor, mit Zwangsarbeit ausgebeutet wurde und dem die Faschisten schließlich sein Leben nahmen. Ihre bewegende Geschichte hat uns veranlasst, uns einmal mit der Frage zu beschäftigen: Wie erging es den Angehörigen der Opfer? Als wir die Gedenkstunde vorbereiteten, baten wir Frau Handelmann Michaelis, uns ihre Geschichte aufzuschreiben.“
Mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin veröffentlichen wir hier diesen Text, der während der Gedenkstunde verlesen worden ist.
Wie eine Familie die Häftlingszeit des Vaters erlebt hat – von Ursula Handelmann Michaelis
Zum Gedenktag an den Holocaust am 27.01.2019
Als der Krieg am 8. Mai 1945 zu Ende war, blieb in unserer Familie das Gefühl der
Bedrohung bestehen.
In Bochum ausgebombt und in das kleine Dorf
Dahlerbrück im Sauerland evakuiert lebten wir mit fünf Personen auf
einem Dachboden.
Wir, das war
zuerst unsere vom Krieg verstörte und
verwüstete Mutter und wir vier Schwestern, die die Schreckenszeit
völlig unterschiedlich durchlebt hatten.
Meine älteste Schwester
übernahm die Verantwortung für uns ganz persönlich und für die
praktischen Überlebensfragen. Selbst auf dem Weg, eine eigene
Familie zu gründen und belastet mit den Erfahrungen einer Kindheit
und Jugend, die unter Ausgrenzung und Missachtung der Nazizeit stand.
Meine nächstjüngere Schwester, 1927 geboren, lebte längere Zeit
bei der Schwester unserer Mutter und fand kaum ihren Platz in der
Restfamilie. Völlig verstört war unsere Schwester, die bei
Kriegsende 12 Jahre alt war und schmerzlich den Vater vermisste und
gleichzeitig überfordert war, sich in der fremden Umgebung zurecht
zu finden. Noch heute mit 85 Jahren, wenn es auf diese Zeit zu
sprechen kommt, sagt sie die Häftlingsnummer unseres Vater 38585
auf.
Mein Leben begann in den Bombenangriffen 1944 über Bochum. Ein
Grundgefühl hat sich für mein Leben schon sehr früh ausgebildet:
Die Erfahrung, nicht dazu zu gehören.
- Wir gehörten nicht zu der Dorfgemeinschaft.
- Wir konnten nicht mit den Familien gemeinsam trauern, die den Vater oder Bruder im Krieg verloren hatten.
- Wir wurden zum lebendigen Vorwurf für alle, die sich mit der jüngsten Vergangenheit nicht auseinandersetzen wollten.
Um mit diesen Gefühlen
überleben zu können, und dem eigenen Leben eine Zukunft geben zu
können, begann eine ängstliche unruhige Suche nach den Wurzeln und
ein Drang, mehr über die vergangene Zeit zu erfahren.
Was für eine
Familiengeschichte hatten wir mitgebracht in die beschauliche
Sauerländer Welt? Unser Vater Max Michaelis, wurde am 10.07.1898 in
Pielburg, Pommern geboren. Im ersten Weltkrieg hat er als
siebzehnjähriger im Baltikum gekämpft und eine
Tapferkeitsauszeichnung bekommen. Unsere Eltern führten eine
„privilegierte Mischehe“ (Nazijargon). 1935 verliert er,
ausgelöst durch die Nürnberger Rassengesetze seine Arbeit und wir
als die Familie die Wohnung. Ab 1938 wird er im Arbeitslager
Bergkamen zum Ausbau der A1/2 zur Zwangsarbeit gezwungen. Unsere
Mutter musste für den Unterhalt des Vaters jeden Monat 120,00
Reichsmark zahlen. Es bestand für ihn die Möglichkeit, immer wieder
Kontakt zur Familie aufzunehmen. Wie bedrängend diese Zeit war,
möchte ich an einer Erfahrung meiner ältesten Schwester deutlich
machen. Sie war auf dem Weg zur Schule, als ihr eine Kolonne
Zwangsarbeiter entgegenkam, die durch Bochum geführt wurde. In der
Gruppe von Männern entdeckte sie unseren Vater, und der Schreck und
die Angst waren so groß, dass sie sich in einen Hausflur flüchtete.
Bis ins hohe Alter hinein ist sie die Belastung nicht losgeworden,
unseren Vater dadurch verraten zu haben.
Ab 1943 kam er ins
Sammellager Oestrich, von dort, dann auf Grund eines Haftbefehls
überführte ihn die Staatspolizei am 27.09.1944 in die Steinwache
Dortmund. Die Steinwache galt im Ruhrgebiet als „Hölle
Westdeutschlands“. Ab da ist der Verbleib unseres Vaters nur noch
in Ansetzen nachvollziehbar: Polizeigefängnis Herne, KZ Neuengamme
bei Hamburg und am 02.12.1944 bekommt er in Buchenwald die
Häftlingsnummer 38585.
Am 08.01.1945 ist er bei dem Marsch von
Buchenwald nach Flößberg dabei. In Flößberg angekommen verliert
sich die Spur meines Vaters. Für uns als Familie gab es keine
Information über den Aufenthaltsort unseres Vaters. Ins Leere hoffen
hieß das für uns über einen langen Zeitraum. Aus Buchenwald kam
ein persönlicher Brief, der starke Erwartungen weckte, dass er die
schreckliche Zeit überleben würde. Die Unsicherheit und ein Leben
in der Warteschleife verbrauchte alle Energien. Gab es einen
richtigen Zeitpunkt ihn für tot zu erklären? Bei wem konnte echte
Hilfe erwartet werden?
Die Tatsache, dass nach dem Kriegsende an den
Ämtern die gleichen Leute saßen wie zur Nazizeit, und auf deren
Wohlwollen wir angewiesen waren, damit unsere Mutter eine Rente
bekam, diese Demütigungen haben tiefe Spuren hinterlassen.
Nachweisen zu müssen, auf welche Weise unser Vater verfolgt wurde,
wie lange er den Stern tragen musste und ob wir berechtigt sind,
überhaupt Forderungen zu stellen.
Das Vergangene hörte nicht auf zu
sprechen und mit immer weniger Menschen konnte darüber gesprochen
werden. Ich empfinde bis heute eine Zurückhaltung und Scheu über
meine Familie zu sprechen. Die Reaktionen, die ich im Besonderen
befürchte, waren und sind Erklärungs- und Leugnungsmuster. Auch
die Sprache ist schwierig. Wie verharmlosend hört es sich an zu
sagen: „Mein Vater ist umgebracht worden.“ Nein: „Er ist
ermordet worden.“ Ermordet durch unerträgliche Arbeit,
ausgehungert durch Gewaltanwendung. Nur schwer haben wir erfasst was
hinter dem Namen „Konzentrationslager Buchenwald“ zu verstehen
war. Unbeschreibliche Gefühle, die nicht in Worte übersetzt werden
konnten. Die Vaterleerstelle wurde mit Phantasien gefüllt und
erschwerte die Auseinandersetzung mit der Realität. Weniger das
Gesagte als das Ungesagte zeigte Wirkung. Der Wunsch, auf die eigene
Herkunft stolz zu sein, eröffnete eine Suche nach Großeltern,
Tanten und Onkeln und behinderte in der Gegenwart zu leben. Ein Teil
des Lebens blieb in der verlustreichen Zeit stecken.
In vorletzten
Sommer habe ich die Gedenkstätte Flößberg aufgesucht. Den
Mitarbeitern der Gedenkstätte möchte ich für ihren persönlichen
Einsatz an Zeit und innerer Beteiligung von Herzen danken. Sie haben
mich so freundlich und persönlich empfangen und mir hier einen
Erinnerungsort geschaffen.
Ob Sie der Einblick in unsere
Familiengeschichte zum Mitfühlen bewegt hat, kann ich nicht sagen,
ich hoffe es allerdings. Und neben meinen Worten wünsche ich mir,
dass Sie heute wie in Israel zum Gedenktag an die Shoah eine Minute
schweigen und Ihren eigenen Gedanken und Gefühlen Raum geben.
Auch
wenn es ungewöhnlich klingt, bin ich sowohl getröstet als auch
traurig nach Hause gefahren: Einerseits bin ich getröstet durch die
Erfahrung der Nähe zu seinem letzten Ort. Andererseits bin ich
traurig, dass ich seinen Namen auf der Gedenktafel am Friedhof nicht
gefunden habe; denn er gehört zu den unbekannten Toten, die zwischen
dem 27.03.1945 und der Evakuierung umgekommen sind.
Nur wer vergessen ist, ist für immer tot.
Auch wenn Frau Handelmann Michaelis im Sommer 2017 nicht die Ruhestätte ihres Vaters Max Michaelis ausfindig machen konnte, ist sie mit der Gewissheit nach Hause gefahren, dass in der Gedenkstätte Flößberg niemand vergessen wird. Auch nicht ihr Vater. Sie hat im Flößberger Wald den Ort der Erinnerung an ihren Vater gefunden, welchen ihr Herz gesucht hatte, oder besser gesagt: mehr war nicht nötig, um mit ihrer persönlichen Vatergeschichte abzuschließen.
Nachdem alle Teilnehmer unserer Gedenkstunde Blumen und Steine der Erinnerung auf den überwiegend jüdischen Gräbern des Häftlingsfriedhofes niedergelegt hatten, schwiegen sie für eine Minute. Die Schweigeminute an diesem Gedenktag war auch Max Michaelis gewidmet.
(Texte: Torsten Wünsche, Ursula Handelmann Michaelis, Bilder: Falk Opelt)